Montag, 4. Juni 2018
Reportroutine
Meine mehr oder weniger selbstgewählte Einsamkeit tut mir nicht gut. Ich war am verlängerten Wochenende viel unterwegs, doch nicht viel bleibt. Es sind alte Lethargien in die ich verfalle und ich muss es dringend ändern.

Ich sehe Sie regelmäßig und trotz aller Ablehnung und Peinlichkeit ist es gut. Ich muss mich hier und da an alte Zeilen erinnern. Schwierig war nur nach all dem, den Moment zu finden, an dem es in Ordnung ist, sich wieder zu umarmen und zumindest jene Nähe zuzulassen oder besser gesagt, jene Nähe zu geben.

Und ich mal wieder bei einem Poetry Slam Event, nur um wieder einmal festzustellen, dass es nichts für mich ist. Zuviel Comedy, zuwenige kreative Versuche. Abgedrosche Themen wie "Rassismus ist blöd", "Sei zufrieden mit dir wie du bist" und Lokalhumor. Nur einer der Slamer spielte darüber hinaus mit den Worten und versuchte "dadaisch" sich Buchstaben zu zensieren. Der Rest war einfach für mich zu platt.

Heute habe ich mir zwei Biere und meinen Campbell geschnappt und machte mich auf zu meinem Lieblingsplatz: Eine versteckte Bank mit Überblick über die Innenstadt. Über sieben Monate hatte ich mir "Der Heros in tausend Gestalten" vorbestellt gehabt, ehe mir die Buchhandlung mitteilte, das der Verlag das Buch doch nicht neu verlegen würde und ich mir eine Ausgabe von '78 in einem Bücherantiquariat erstanden habe. Die Vorfreunde ist ins Unglaubliche gewachsen.

Ich sitze auf der Bank und versuche einige Seiten zu lesen und dabei mein Bier zugenießen, als zwei junge Frauen mehr und mehr meine Aufmerksamkeit bekommen. Ich kann nicht anders als abzuschweifen und ihren Gesprächen zu lauschen, während sie in hübschen Sommerkleidern neue Fotos von sich für Social Media schießen. Sie sind achtzehn oder neunzehn, denke ich, zu jung, denke ich aber sie haben Spaß und es macht Spaß ihre Gespräche über die geschossenen Bilder zu belauschen.

Eine weitere junge Frau betritt die Bühne, wohl in einem ähnlichen Alter wie die anderen. Mit ihrem Fahrrad fährt sie auf die Bank zu und erst als sie mich sitzten sieht bremst sie ab und steigt ab. Die Mädchen im Sommerkleid verschwinden lachend und die Frau mit Fahrrad ändert ihren Kurs und setzt sich nicht zu mir auf die Bank, sondern aufs angrenzende Geländer und genießt ebenfalls den Blick über die Stadt.

Sie sieht traurig aus, nachdenklich. Ich kann es mir nicht verkneifen hier und da einen Blück auf sie zu werfen und die Melancholie ist ihr anzusehen. Kurz tadele ich die Menschheit, dass sie die Sozialisierung verlernt hat um sich einfach neben mich zusetzen, wo ich doch extra viel Platz gelassen habe für jedermann, der das Bedürfnis verspürt, die Aussicht und die schöne Sommernacht zu genießen. Ich spiele mit dem Gedanken sie anzusprechen. Das Bedürfnis überfällt mich, ihr anzubieten sich neben mich zu setzen, zu reden, Probleme mit einem Fremden durchzusprechen und notfalls sogar ein Schluck Bier von mir zutrinken. Doch ich sage nichts. Ich will niemanden stören der nachdenkt, der so manchen klugen, befreienden Gedanken vielleicht fasst, der alleine sein möchte, der die Einsamkeit genauso genießt, wie ich sie manchmal genieße, wohlwissend um den Fluch der sie ist.

Ich schweige und lese im Buch, auch wenn ich mich nicht recht konzentrieren kann. Campbell schreibt irgendetwas davon, das man früher versucht hat alt zu werden und nicht jung zu bleiben. Heute (geschrieben '49) versuchen die Leute jung zu bleiben und nicht alt zu werden. Das ist wohl die Ursache für einige Neurosen und Probleme, da nie die alten Stränge gekappt werden.

Ich versinke in Gedanken zwischen Altsein und Jungsein und was ich will, über gekappte Stränge und über diese namenlose, sympatische, melancholische, junge Frau mit dem Fahrrad auf dem Geländer vor mir, die ich ansprechen will, mit der Intention zu helfen, zu reden, zu lernen, zu verstehen.

Irgendwann steigt sie vom Geländer herab, wirft mir einen Blick zu, den ich nur im Augenwinkel erfasste, steigt auf ihr Rad und radelt davon. Ihre Melancholie bleibt, das sehe ich ihr an. Ich trinke den letzten Schluck meines zweiten Bieres, packe das Buch ein, hole tief Luft und mache mich kurz nach ihr auf dem Heimweg.

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