Samstag, 12. Januar 2019
Spiegelroutine
Nackt stehe ich vor dem Spiegel und betrachte den Schatten meines früheren ichs. Die Muskeln sind verblasst und lassen sich nur noch erahnen. Meine Haltung ist ungesund und ich habe etwas Bauch angesetzt.

Vorbei sind die Tage, als ich noch durch und durch Kampfsportler war. Drei- bis viermal in der Woche ins Traning, daneben zuhause noch etwas Krafttraining. Ich war fit. Jetzt bin ich fett. Das Studium, der Stress, der Alkohol hat mich dick werden lassen.

Scheiß drauf, wie du aussiehst, denke ich mir für einen Moment, worauf es ankommt, ist das du dich wohl fühlst und verdammt nochmal gesund bist. Dann sehe ich mich wieder an. Scheiße, wie seh ich aus. Nicht alles ist schlecht. Das Fett hat mir mehr Masse geben. Breiterer Rücken, breitere Schultern. Damit kann ich leben.

Ich rede mir ein, dass wenn es drauf an kommt, mein Körper mich nicht im Stich lässt. Darauf kommt es nämlich an. Das er funktioniert, wenn er muss. Aber ich glaube daran. Wir würden an die äußerste Grenze gehen und uns nicht enttäuschen.

Man wird als Kämpfer geboren, aber es bleibt ein Ideal. Ich muss an meinen alten Sensei denken, ein ehemaliger Bundeswehr-Offizier. Er hat mal gesagt, es gibt zwei Arten von Konfrontation: Eine Schlägerei, wenn ein Besoffener auf dich los geht, wenn er dir eine verpassen will, sich mit dir prügeln will, aber dich nicht umbringen will. Und wenn jemand dich umbringen will. Mit einem Messer, einer Knarre oder wie auch immer. Wenn dir wirklich jemand nach dem Leben trachtet. Er war der Ansicht, man muss da unterscheiden. "Angemessenheit" ist da vielleicht der richtige Begriff.
Niemand wird verstehen, wenn du den versoffenen Halbstarken so krankenhausreif prügelst, das er seines Lebens nicht mehr glücklich wird. Bei den anderen ist alles erlaubt. Das ist Krieg. Wenn du Leben willst, zerschlag ihm die Gelenke, sodass der Ellenbogen oder das Knie bricht, beiß ihm in den Hals, in die Nase oder sonst wo, geh auf die Augen, den Kehlkopf, die Hoden.

Komischer Kerl, lange nicht gesehen, denke ich während ich darüber nachdenke und mich immernoch im Spiegel betrachte.

Ich atme durch. Ich muss los, denke ich und spiele mit dem Gedanken nackt joggen zu gehen. Ich bin kein Nudist, aber die Vorstellung die Kälte, den Schnee, den Wind auf der nackten Haut zu spüren beeindruckt mich. Es müsste etwas zutiefst natürliches haben, etwas offenbarendes. Und was verdammt kaltes. Die Spartaner sollen angeblich ihre Jünglinge nur nackt trainieren lassen, weil sie Sorgen hatten, das die Kleidung ihr Wachstum verhindert. Aber wir sind hier nicht in Griechenland vor tausenden Jahren und wahrscheinlich würde jemand die Polizei rufen. Und ich würde es höchst wahrscheinlich nach zehn Metern bereits bereuen.

Ich verwerfe, die wirren Gedanken, zieh mir Unterwäsche und Sportkleidung an und mache mich auf den Weg.

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Vielleicht nimmt deswegen mit dem Alter die Selbstironie bzw. der Zynismus so zu, weil es dann erträglicher ist, sich selbst beim Verfall zuzusehen... ;)

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