Sonntag, 19. Juni 2016
Nächtliches Geständnis
Wir sitzen am Bahnhof und warten auf den letzten Zug der uns zurückbringen soll. Es war ein schöner Abend in bester Runde, wir sind noch fit, denn die Tage des unsinnigen Betrinkens sind vorbei. Wir werden das Gefühl nicht los, früher gealtert zu sein. Aber sind wir vernünftiger als die anderen? Nein, sicher nicht. Wir haben nur andere Defizite.

Er sitzt, ich stehe. Ich saß den ganzen Abend und werde im Zug wieder sitzen. Das halte ich manchmal nicht aus, deshalb stehe ich. Er sitzt gemütlich und kümmert sich nicht um die verdreckte, beschmierte Bahnhofsbank. Er grinst mich an, ich grinse zurück. Es war ein guter Abend, wie wir ihn versuchen regelmäßig zu machen, aber doch immer wieder daran scheitern. Meistens liegt's an mir, dass gebe ich zu, aber ich wohne eben nicht mehr in der Heimat. Die anderen schon. Aber sie nehmen es mir natürlich nicht übel. Sie freuen sich für mich.

Ich schaue die Bahnschienen entlang, die sich schon gleich in der Dunkelheit verlieren. „Ich hab angefangen zu lesen.“ gesteht er mir nach einer Weile des Schweigens. Ich sehe ihn an und kann mir ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Aber ich sehe, dass er damit gerechnet hat und, dass es ihm doch etwas Überwindung gekostet hat, es mir zu erzählen. Er liest. „Natürlich nicht so’n Zeug wie du, normale Bücher.“ Ich sage immer noch nichts, sondern sehe ihn nur weiterhin breit grinsend fragend an. „Habe mit Herr der Ringe angefangen.“

Ich muss was sagen. Er weiß genau, was ich fragen werde. „Woher der Sinneswandel? Wie kommst du zum Lesen?“ Er seufzt und atmet kurz durch. Es scheint ihm etwas peinlich zu sein, aber er weiß genau dass es ihm das nicht sein muss. Er liest. „Weißt du, wenn ich später Mal Kinder habe, will ich ihnen anständig was vorlesen können. Ich will nicht der Papa sein, der nur rumstottert.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Also nicke ich erstmal nur. Über sowas hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Legasthenie.

Wir kennen uns seit Jahren. Haben lange zusammen die Schulbank gedrückt. Wir sind eigentlich sehr verschieden, aber irgendwie auch nicht. Vor allem die Wellenlänge stimmt und das zählt. Wir waren mal ein Jahr Sitznachbarn. Es war sein bestes, mein schlechtestes Jahr. Die Lehrer dachten, er hätte schlechten Einfluss auf mich, auch wenn ich guten Einfluss auf ihn hatte. Sie wollten es mir nicht weiter zumuten oder trauten es mir nicht zu. Ich wurde weggesetzt und wenig später blieb er sitzen. Es tat ihm unglaublich gut. Das Sitzenbleiben hat ihn verändert, auch wenn er immer noch bei uns war. Bis jetzt. Wenn ich zurückschaue muss ich zugeben, dass er einen verdammt guten Einfluss auf mich hatte. Die Lehrer hatten keine Ahnung. Und die Noten sagten nichts darüber aus. Wir haben beide viel voneinander gelernt und sind daran irgendwie gewachsen. Ich glaube, das eine Jahr reichte aus, um das Fundament zu legen für diese Freundschaft, die bereits viel ausgehalten hat und wohl auch nicht so schnell zu Ende geht.

Der Zug kommt, wir steigen ein und verlieren das Thema. Erst als ich aussteigen muss, kommt es mir wieder in den Sinn. „Ich glaube, ich hab ein Buch für dich.“ Er sieht mich fragend an. „Bukowski?“ Er schüttelt den Kopf. Kennt er nicht. Ich seufze. „Bleib anständig, ja?“ sagt er und grinst. „Halt die Ohren steif, ja?“ antworte ich wie immer. Dann steige ich aus. Als der Zug an mir vorbei fährt, nicken wir uns nochmal zu.

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Manchmal lernt man von den Personen, die einem am Unähnlichsten sind, das Meiste.

Schön, dass ihr nach so vielen Jahren noch befreundet seid.

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Ja, ich glaube, du hast Recht. Die, die uns am Unähnlichsten sind, helfen uns am meisten unseren Horizont zu erweitern und zu "wachsen".

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eine berührende geschichte
auch wenn du zuerst lachst, so zeugt doch dein nachdenken und berührtsein von dem, was der freund sagte, dass ihr einander wichtig seid. er erzählt dir etwas für ihn wesentliches und wichtiges, tiefgreifendes gar. es liest sich auch so, als wäre es ihm nicht leicht gefallen, das zuzugeben und doch schwingt auch eine kleine portion stolz darin mit, weil er es endlich geschafft hat, etwas zu verwirklichen, woran ihm etwas liegt, was ihm etwas bedeutet. und dass es dich berührt hat zeigt, dass zwischen euch eine stille verbindung existiert die euch trägt. schön.

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